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Gliedertaxe: Richtige Bewertung der Invalidität

27.09.2012

 

 

Der Verlust eines Armes wird sowohl bei einem Handwerker als auch bei einem Büroangestellten mit jeweils 70 % bewertet, auch wenn die Auswirkungen der Unfallfolgen auf die berufliche Tätigkeit unterschiedlich sind. Als feststehende Invaliditätsgrade gelten - unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität - bei Verlust der Funktionsfähigkeit eines Armes im Schultergelenk 70 %, eines Beines über der Mitte des Oberschenkels 70 %, eines Beines bis zur Mitte des Unterschenkels 45 %, eines Auges 50 %, des Geruchs 10 %, des Geschmacks 5 %, usw. Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung eines dieser Körperteile oder Sinnesorgane wird der entsprechende Teil des Prozentsatzes angenommen. Sind durch den Unfall mehrere körperliche oder geistige Funktionen beeinträchtigt, werden die Invaliditätsgrade zusammengerechnet. Mehr als 100 % werden jedoch nicht angenommen.

Bei einem Teilverlust oder teilweiser Funktionsunfähigkeit ergibt sich die Leistung aus dem entsprechenden Anteil, zu dem das Körperteil bzw. das Sinnesorgan beeinträchtigt ist. Dieser Anteil wird mit Bruchzahlen oder Prozenten (z.B. 5/10 Beinwert) angegeben.

Nach dem OLG Köln soll bei der Bewertung der Invaliditätshöhe allein auf den Sitz der unfallbedingten Schädigung abzustellen sein (OLG Köln VersR 2011, 789). Nach dem Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt (VersR 2006, 964) ist jedoch nach dem System der in § 7 Abs. 1 Nr. 2 AUB 88 vereinbarten Gliedertaxe nicht auf den Sitz der eingetretenen Verletzung, sondern auf den Sitz der Auswirkung der Verletzung abzustellen (vgl. Grimm, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 7 AUB, Rdnr. 21; Naumann/Brinkmann, Die Private Unfallversicherung, 2. Aufl., 2012, § 5, Rdnr. 53).

Nach Naumann/Brinkmann sei die Ansicht des Oberlandesgerichtes Frankfurt,  die Invaliditätsleistung im Sinne einer Entschädigung für Funktionsverluste zu betrachten, gerechter als eine auf den Sitz der Verletzung abstellende Auffassung. Rissen z.B. bei Zugkräften auf den Arm die Nervenwurzeln aus, dann säße die Verletzung an der Halswirbelsäule. Sei dadurch die Hand vollständig funktionsunfähig, müsse dies zu einer Bewertung nach der Gliedertaxe führen und eben nicht zu einer Bewertung anhand der Verletzung an der Wirbelsäule, da dort unter Umständen gar keine Funtionsbeeinträchtigungen vorhanden seien (Naumann/Brinkmann, Die Private Unfallversicherung, § 5, Rdnr. 53).

Dies (Sitzung der Wirkung) stehe auch nicht im Widerspruch zur BGH-Rechtsprechung, weil die Entscheidung zur Gelenksversteifung (BGH VersR 2003, 1163) nicht die Systematik der Gliedertaxe an sich in Frage stelle. Da eine Formulierung in den AUB wegen verschiedener Auslegungsmöglichkeiten zu Lasten des Verwenders und zu Gunsten des VN's ausgelegt werde, sei es letztlich eine Entscheidung zu den Unklarheitsregeln der § 5 AGBG, § 305 c Abs. 2 BGB (Naumann/Brinkmann, Die Private Unfallversicherung, § 5, Rdnr. 54).

Diese Meinung vertreten auch Lehmann/Ludolph unter Bezugnahme auf ein Urteil des Oberlandesgerichtes Köln (VersR 1989, 353).

Es komme nicht darauf an, an welchem Körperteil die Erstgesundheitsschädigung, also die primäre Verletzung, lokalisiert gewesen sei. Entscheidend sei vielmehr, wo sich die unfallbedingten Defizite funktionell auswirken würden (Lehmann/Ludolph, Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung, 3. Aufl., 2009, Seite 10).

Der Bundesgerichtshof hat allerdings in einer Entscheidung vom 14.12.2011 (AZ: IV ZR 34/11 = Versicherung und Recht kompakt 2012, 77) festgelegt, dass es auf den Sitz der unfallbedingten Schädigung ankomme. Bei einer Mehrfachschädigung ein und desselben Gliedes sei die rumpfnächste Beeinträchtigung maßgeblich, da bei Mehrfachschädigung ein und desselben Gliedes eine Addition der Invalidität einzelner Gliedteile stattfinde, aber die höhere Invalidität des rumpfferneren Gliedteiles die Untergrenze der Entschädigung bilde (VersR kompakt 2012, 77).

Da heißt: Erleidet der Versicherte eine Lendenwirbelfraktur mit kompletter Querschnittslähmung, muss sich der Versicherer nicht am Schaden der Lendenwirbelsäule, sondern an den Funktionsausfällen der gelähmten Beine orientieren. Diese völlige Funktionsunfähigkeit der Beine führt dazu, dass nach der Gliedertaxe jeweils ein Invaliditätsgrad von 70 %, Gesamtinvaliditätsgrad 100 %, anzunehmen ist (Lehmann/Ludolph, Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung, 3. Aufl., Seite 10).

Zwar sieht die Gliedertaxe neben den Werten für den vollständigen Verlust auch abgestufte Werte für Teilamputation vor (z.B. 45 % bei Verlust eines Beines bis zur Mitte des Unterschenkels). Diese Folgen der Unterschenkelfraktur sind jedoch am Invaliditätsgrad für den vollständigen Verlust des ganzen Beines, also nach 70 %, zu bemessen (Lehmann/Ludolph, Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung, 3. Auf., Seite 10).

Rechte und linke Gliedmaßen werden gleich bewertet (BGH VersR 1966, 1133).

Die Bemessung der Unfallfolgen an den Gliedmaßen erfolgt durch ein von der Versicherung einzuholendes medizinisches Sachverständigengutachten.

Da von der Höhe der Invalidität auch die Höhe der finanziellen Entschädigung abhängt, ist das Gutachten vom Versicherungsnehmer und dessen Anwalt genauestens zu prüfen. Für die Beurteilung der Höhe einer dauernden Invalidität ist verbliebene Verletzungsfolge maßgeblich.

Je mehr die Beweglichkeit eingeschränkt ist, umso höher ist die Funktionsfähigkeit der Gliedmaße beeinträchtigt. Grundlage der Beweglichkeit sind die exakten Winkelgrade der Beweglichkeit in den einzelnen Gelenken. Die Messung erfolgt nach der Neutral-Nullmethode. Messergebnisse sind in Schritten von fünf Grad anzugeben. Ist die Bewertung der Höhe der Invalidität streitig, ist immer von den erhobenen Befunden auszugehen. Nicht die abschließende Bewertung des Gutachters von z.B. 1/10 Beinwert oder 2/3 Armwert ist für die Höhe des Anspruchs entscheidend, sondern die sich richtigerweise aus den Befunden ergebende Einschätzung (Naumann/Brinkmann, Die Private Unfallversicherung, 2. Aufl., § 6, Rdn. 26).

 

 

 
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